Was ist Tamera?
Tamera ist der Name einer Gemeinschaft, die 1995 vom Soziologen und Psychoanalytiker Dieter Duhm, der Theologin Sabine Lichtenfels und dem 2019 verstorbenen Physiker und Musiker Charly Rainer Ehrenpreis in Portugal gegründet wurde. Diese Gemeinschaft besteht heute aus ca. 200 Mitgliedern, die gemeinsam auf einem 140 Hektar großen Stück Land im Alentejo nördlich der Algarve leben und arbeiten.
Was dachte ich, was Tamera ist?
Viel Recherche haben wir vor unserer Reise nach Tamera nicht betrieben. In meinem Kopf handelte es sich bei Tamera um eine Art Ökodorf, dessen Anliegen vor allem ist, im Einklang mit der Natur und nachhaltig zu leben; was mich seit jeher interessiert und anzieht. Auch wenn diese Vorstellung sicher nicht ganz falsch ist, so liegt der Kern Tameras doch anderswo.
Die Tour
Überraschend war für uns zunächst, dass keine betonierte Straße nach Tamera führt. Die letzten 3 km ging es über eine unbefestigte Rumpelstrecke zum Cultural Center, von dem die Tour starten sollte. Es ist wirklicht sehr abgelegen. Wir kamen von der noch recht grünen Algarve. Die Landschaft, die im Alentejo an uns vorbeizog, mutete hingegen fast schon steppig an: Verbrannte, strohige Erde, sehr durstig und trocken aussehende Korkeichen und Pinien. Sobald wir allerdings das Land Tameras befahren hatten, wandelte sich das Bild. Obst- und Nussbäume, voller Früchte oder bereits abgeerntet, bestimmen die Landschaft. Seit der Gründung wurden hier laut der Webseite mehr als 20.000 Bäume gepflanzt.
Wir waren 1 Stunde zu früh und wollten uns zunächst ein wenig umsehen, um uns die Zeit bis zum Beginn der Tour zu vertreiben. Die geöffnete Aufbautür haben wir allerdings erstmal direkt wieder geschlossen, weil direkt davor gerade ein (zugegeben kleines) Wildschwein nach Essbarem suchte. Später sollten wir lernen, dass insgesamt 20 Wildschweine in mehr oder weniger harmonischer Einheit mit der Gemeinschaft auf dem Gelände zusammenleben und den Kräuterkarten zwar nicht zerstören, andere Gemüseernten aber durchaus schon auf dem Gewissen haben. Diese Tiere waren auch der Grund, warum Uri, unser Guide bei der Tour, sein Gartenhandwerk von 5 Jahren irgendwann entnervt aufgegeben hatte. Eva, die Kräutergartenverantwortliche, habe hingegen einen Deal mit den Schweinen: Sie gebe ihnen zu verstehen, wo sie den Boden öffnen sollen und wo sie bitte nicht entlangzutrampeln haben. Und die Tiere würden diese Vereinbarung achten. Finde ich tendenziell eher unplausibel, aber in Einheit und mit Respekt voreinander mit den Tieren zusammenzuleben ist ja ein schönes und ehrenwertes Anliegen. Wo wir gerade bei Tieren sind: Auch Hühner leben in einem ausgemisteten kleinen Caravan auf dem Gelände. Hier wurde folgendes „Experiment“ gestartet: Es gibt eine Ecke, wo abgelegte Eier nicht angefasst werden und stattdessen den Hühnern zum ausbrüten gelassen werden, an einer anderen Ecke gelegte Eier werden als Futtermittel für die in Tamera lebenden Tiere genutzt und an einer dritten Stelle abgelegte Eier dürften die in Tamera lebenden Menschen essen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Design des Experiments sicher optimierbar, eine witzige Idee ist es nichtsdestotrotz, und an Ecke 3 ist wohl tatsächlich ab und an ein Ei zu finden.
Nachdem sich alle Besucher*innen eingefunden hatten, startete Uri, der seit 16 Jahren in Tamera lebt, die Tour mit einem Stuhlkreis: Wir sollten unsere Namen sagen, wo wir geboren wurden, wo wir aktuell leben und was wir gerne heilen würden. Uri selbst wolle die Welt vom Patriarchat heilen; Natur wurde genannt, unsere Herzen oder Beziehungen, Befreiung von Angst, Heilung der Welt vom Kapitalismus. So weit, so eso, aber schön.
Wasser
Die Tour war in drei Abschnitte geteilt: Wasser, Essen und Energie. Wir erfuhren, dass die Gemeinschaft durch ihre Wasserretentionslandschaft in diesem Teilbereich zu 100% autark ist. Wie uns das Prinzip erläutert wurde, wird die Landschaft dabei so verändert, dass künstliche Seen entstehen, die aber gerade nicht mit Plastikplanen zum Boden hin versiegelt werden, sondern lediglich mit Lehm verdichtet. So will man verhindern, dass das Regenwasser sich, wie normalerweise, den schnellsten Weg zurück zum Ozean sucht. In diesen Seen wird Regenwasser gesammelt und das versickernde Wasser reichert das Grundwasser an, das dann wiederum über Brunnen entnommen werden kann. Der erste dieser Seen ist aktuell fast ausgetrocknet. Die letzten Jahre waren auch in Portugal sehr trocken, aber noch funktioniert das System. Ein anderer See, den sie etwas höher angelegt hatten, ist wohl – aufgrund der Witterung, aber nicht zuletzt wegen Planungsfehlern – nie vollgelaufen. Was die Menschen in Tamera versuchen, sind oft (oder immer?) Experimente, die eben auch schiefgehen können. Uri schilderte, wie der erste See dabei geholfen hat, sein eigenes Mindset und das der Gemeinschaft vom Fokus auf Mangel auf eins des Überflusses zu verändern. Solche Bemerkungen erinnern mich schwer an unseriöse Selbsthilfe-Bücher und rufen in mir vor allem den Impuls hervor, die Augen zu rollen. Dieser Mindset-Sprech scheint mir nämlich vor allem suggerieren zu wollen, dass Menschen denen es in ihrem Leben an etwas mangelt (Geld, Beziehung, Gesundheit …) das alles ändern könnten, wenn sie doch nur das richtige Mindset haben. Systemische Ursachen von Mangel werden dabei selbstverständlich außer Acht gelassen. Gleichzeitig kann ich verstehen, dass der Erfolg dieser See-Anlage Euphorie und Vertrauen in das eigene Tun in Tamera besonders befeuert hat. Und den Mangel an Wasser in Tamera konnten sie damit definitiv beheben.
Essen in Tamera
Danach wurden wir zum Gemeinschaftsgarten geführt, in dem allerlei Gemüse angebaut wird. Vor der Pandemie habe Tamera laut Uri 15 mal so viel Gemüseanbaufläche gehabt, deren Betrieb allerdings auf die Mithilfe von saisonalen Besucher*innen (sogenannte work-studies) angewiesen war. Während der Pandemie-Hochzeiten ab 2020 konnte niemand Tamera besuchen, also wurden die Gartenflächen reduziert. Seitdem stammen lediglich, aber immerhin, 5-10% des Essens aus Tamera selbst. Den Rest versuchen sie aus ökologischem Anbau aus Portugal, möglichst regional, zu beziehen (80% des zusätzlichen Nahrungsbedarfs) und wo es nicht anders geht, auch aus anderen Teilen der Welt (20%). Tamera verfügt über 5 Gemeinschaftsküchen, wo die Bewohner*innen zusammen essen können aber nicht müssen. Die Verpflegung ist vegetarisch-vegan. Totes Tier kommt nirgendwo auf den Tisch, außer eine Person benötigt aufgrund einer Erkrankung unbedingt tierisches Eiweiß. Neben den Gemeinschaftsküchen gibt es eine Vorratskammer, in der sich alle das nehmen können, was sie für ihren täglichen Bedarf so brauchen, kostenlos. Lediglich teurere Lebensmittel wie Bananen, Avocado oder Schokolade müssen via Vertrauenskasse bezahlt werden.
Apropos Vertrauenskasse: Es gibt auch eine Bar, wo man abends zusammenkommen kann, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Auch das funktioniert über eine Vertrauenskasse. Streng genommen funktioniert es aber eher nicht: Eine Prüfung in einem vergangenen Jahr habe ergeben, dass in der Bar-Vertrauenskasse über das gesamte Jahr berechnet 10.000€ fehlten. Das fehlende Geld wurde dann über ein Fundraising in der Gemeinschaft wieder beschafft. Überhaupt: Geld. Wie trägt sich diese Gesellschaft eigentlich? Diese Fragen kamen immer wieder auf und konnten im Anschluss an die Führung von uns gestellt werden und wurden auch offen beantwortet. Dazu später mehr.
Energie
Die letzte Station unserer Tour war das Solar Village. Auf einer 240 qm großen Fläche wird experimentiert, wie eine Gemeinschaft von 50 Personen über Photovoltaik hinaus energieautark leben kann. Dabei werden zum Kochen beispielsweise Scheffler-Spiegel eingesetzt, solare Wasserpumpen und Stirling-Motoren, aber auch selbst produziertes Biogas. Ich finde das alles so spannend wie technologisch komplex und schwierig zu verstehen, so dass ich für weitere Informationen auf die sehr ausführliche Webseite von Tamera verweisen muss.
Ganz Tamera ist seit wenigen Jahren energetisch nicht mehr off-Grid und hat sich ans nationale Stromentz angeschlossen. Überschüssiger, von den Photovoltaik-Anlagen auf dem Land generierter, Strom wird ins Netz gespeist. Reicht der selbst erzeugte Strom nicht aus, wird die fehlende Menge aus dem Netz entnommen. Insgesamt produziert Tamera beachtliche 80% der benötigten Energie selbst.
Im Camper funktioniert das Kochen mit Sonnenenergie leider nicht so gut, weshalb wir auf Flüssiggas aus Flaschen angewiesen sind. Um deren Füllstand zu kontrollieren, haben wir mit dem Mopeka Gas Sensor eine super Möglichkeit gefunden. Schau doch auch mal in den Artikel hinein.
Fragen
Nach jedem Tourabschnitt ließ Uri uns Fragen zum gerade besprochenen Thema stellen. Recht schnell wurde aber klar, dass es weitere Fragen gibt, die mit der Lebensorganisation der Gemeinschaft weniger und mehr mit dem Warum zu tun hatten. Warum genau haben die sich 1995 zusammengefunden und was machen die da den ganzen Tag? Zudem war das Finanzenthema ein dominantes: Wie finanziert sich Tamera eigentlich?
Also gab es am Ende der Tour, zurück am Cultural Center, für eine gute halbe Stunde eine Abschlussgelegenheit, die dringendsten Fragen loszuwerden.
Finanzen
Laut Uri braucht Tamera 1 Mio. € jährlich, die sie vor allem über Seminare, (Online-)Kurse und Spenden finanzieren. Die 6 Nächte und 7 Tage dauernde Kennenlernwoche Tamera mit Vollverpflegung und Übernachtung im Mehrbettzimmer startet beispielsweise – Stand 7/2023 – bei stolzen 690€; wer gut verdient, wird gebeten, bis zu 1140€ zu zahlen.
Zudem gibt es die Möglichkeit, im Zeitraum zwischen April und November als work-study anzureisen und in der Gästeküche mitzuhelfen, wo für Gäste von Tamera gekocht wird. Erwartet wird, dass work-studies mindesten 5 Wochen bleiben, 5-6 Tage die Woche 4-5h Küchenarbeit verrichten und, Achtung!, dafür aber 20€ pro Tag zahlen. Für eine kapitalismuskritische Organisation wie Tamera eine absurde Nummer, wie ich finde: Die Leute sollen täglich 4-5 Stunden ihre Arbeitskraft einsetzen und dafür dann auch noch etwas bezahlen? Ich finde das lächerlich.
Gleichzeitig wird allen festen Mitgliedern der Gemeinschaft monatlich ein Taschengeld von bis zu 200€ ausgezahlt, von denen sie alle Avocado- oder sonstige Ausgehbedürfnisse finanzieren können, wenn sie denn wollen. Manche verlassen Tamera zudem jährlich für einige Wochen um anderswo zu arbeiten und etwas mehr Geld für ihr Leben in Tamera zu verdienen. Zudem gebe es eine Art Community-Healthcare, von der etwa Besuche in einer Zahnklinik bezahlt werden. Unklar ist aber, was passiert, wenn jemand eine richtig teure Erkrankung entwickelt. Es scheint so zu sein, dass die Gruppe bei sehr teuren medizinischen Notwendigkeiten ein Fundraising veranstaltet, um das zu finanzieren. Mitglieder im portugiesischen Krankenversicherungssysten scheinen sie jedenfalls nicht zu sein.
Ein typischer Tag in Tamera
Wie sieht denn nun ein typischer Tag in Tamera aus?
- Frühstück: alle für sich in ihrer Kern(-chosen)familie
- 7:00 Godpoint: Hier wird täglich eine Stunde über Gott gesprochen – was auch immer die Mitglieder unter Gott verstehen. Oder es werden spirituelle Texte diskutiert. Nicht alle Mitglieder nehmen dieses Angebot wahr, was übrigens für alle Gemeinschaftsaktivitäten in Tamera gilt.
- 9:00-13:00 Arbeit: jede Person hat ihren eigenen Wirkungsbereich.
- 13:00-14:00 Mittagessen in einer der Gemeinschaftsküchen
- 14:00-16:00 Siesta, die für Nickerchen, Liebe machen und andere Dinge genutzt werden kann
- 16:00-19:00 Gemeinschaftsarbeit: vertrauensbildende Übungen (dazu unten mehr)
- 19:00-20:00 Abendessen in einer Gemeinschaftsküche
- Im Anschluss: Zwangloses Zusammenkommen an der Bar oder andere Freizeitaktivitäten
Weitere gemeinschaftliche Aktivitäten
Es gibt außerdem wöchentliche oder monatliche Get-Togethers, wie die sonntägliche Matinee um 10:00 mit anschließendem gemeinsamem Brunch. Wir wurden an unserem Besuchstag eingeladen, tags darauf teilzunehmen. Da wir vor Ort aber nicht übernachten durften und die Anreise etwas mühsam war, haben wir uns jedoch dagegen entschieden. Eine aktuelle work-study dort erzählte uns, dass sie bislang 2x bei einer Matinee dabei war und es einmal um die Wasserrückhaltungstechnologie ging, ein edukativer Vortrag also, und das andere Mal sprach eine Frau über ihr Verhältnis zum Tod. Für die Matinee kommen die Menschen in der Aula zusammen, das wohl größte Strohballenhaus auf der iberischen Halbinsel. Eigentlich darf aber auf dem Gelände gar nichts gebaut werden und nach wie vor leben viele Mitglieder in Wohnwagen, Jurten oder Zelten, da es sich bei dem Land rechtlich um agrikulturelles Land handele. Aktuell befindet sich die Gemeinschaft aber in Gesprächen, das Land rechtlich so umzuwandeln, dass auch die bereits gebauten festen Gebäude bleiben und ggf. neue künftig hinzukommen können.
Jeden Montag versammeln sich außerdem alle die mögen, am 96 Steine zählenden Steinkreis zum Sonnenaufgang. Ebenfalls wöchentlich findet dort eine von Sabine Lichtenfels geleitete Ring-der-Kraft-Mediation statt: Hier wollen sich die Meditierenden geistig „mit der heiligen Allianz des Lebens und mit Friedensarbeiter*innen in aller Welt“ verbinden (ich möchte wieder die Augen rollen, wenn ich so etwas lese). Und schließlich kommen die Tameraner*innen wöchentlich zum politischen Café zusammen, wo sie Neuigkeiten aus der ganzen Welt erfahren und diskutieren. LTE und WiFi g’s auf dem Gelände übrigens und zumindest bei den work-studies, die wir gesehen haben, waren Smartphones durchaus präsent. Vielleicht entscheiden sich aber die dauerhaft dort Lebenden bewusst gegen die ultimative Vernetzung, die ein Smartphone mit sich bringt. Ich frage mich, wie die Nachricht des russischen Angriffs auf Ukraine im letzten Jahr in Tamera aufgenommen und diskutiert wurde.
Das große Warum
Der Aspekt, warum sich diese Gemeinschaft eigentlich gegründet hat, wurde zwar kurz zu Beginn der Tour angerissen, weitere Details kamen aber erst nach und nach unter anderem durch die Rückfragen der Besucher*innen zur Sprache. Und obwohl ich vor allem an den ökologischen Aspekten Tameras interessiert war, wurde es doch genau hier für mich auch nochmal spannend, neige ich doch dazu, Menschen, die eher spirituelle Sichtweisen auf das Leben und die Welt haben, schnell als esoterische Spinner abzutun. Was für eine wunderbare Gelegenheit also, mich hier selbst herauszufordern und besonders aufmerksam zuzuhören. Die Gründungsgeschichte fasste Uri so zusammen, dass Tamera eben genau deshalb besonders sei, weil der Gründungsanlass kein spiritueller oder ökologischer war, sondern vor allem ein politischer. Tamera ist im Grunde eine Friedensbewegung: Den Beginn markierte eine linke Kritik am Vietnamkrieg und generelles Aufbegehren gegen westlichen Imperialismus in den 1960ern. Die zentrale und heute noch relevante Frage bildete sich beim ersten Gemeinschaftsprojekt, der Bauhütte im Schwarzwald (ab 1978) heraus, wo soziale Konflikte in der Gruppe mehr Raum einnahmen als antizipiert. Die Frage, und ich finde es ist eine gute und wichtige Frage, lautet: „Wie können Menschen dauerhaft in Vertrauen zusammenleben?“ Gelingt das, muss es auch keine Kriege mehr geben. Wenn man diese Leitfrage kennt, macht auch der typische Nachmittag in Tamera Sinn: Vertrauensbildende Übungen im Kollektiv. Der wichtigste Baustein laut Uri ist das Forum: Hier kommen 10, 20 oder sogar alle 200 Personen unter Leitung einer erfahrenen Person zusammen. Eine freiwillige Person stellt sich in die Mitte des Raumes und teilt etwas Privates, was sie sonst vielleicht lediglich Freund*innen, Mitgliedern der eigenen Familie oder Therapeut*innen erzählen würde, die Gruppe spiegelt dann, was sie hört. Diese „soziale Technologie“ kreiere einen Safer Space, der Verbundenheit, Perspektivübernahme und wahre Kommunikation erlaube. Ich will ehrlich sein: Allein darüber nachzudenken, dass solche Zusammenkünfte praktisch täglich seit mehr als 30 Jahren stattfinden, erschöpft mich. Halte ich das für völligen Quatsch?: Absolut nicht. Andererseits: Wie privilegiert sind diese Menschen eigentlich, dass sie sich diese permanente Nabelschau überhaupt erlauben können? Ist denen das überhaupt bewusst? Kapitalismuskritik und die Entscheidung für ein „Aussteigerleben“ sollte ja vermutlich genau das ermöglichen: Ausreichend Zeit, sich mit den wichtigen Dingen zu beschäftigen. Aber sind das die richtigen Dinge, mit denen sich die Menschen in Tamera tagein, tagaus befassen? Bin ich vielleicht sogar neidisch, weil die so viel Zeit zu haben scheinen, sich mit sich selbst zu beschäftigen? Letztere Frage möchte ich entschieden verneinen und ich glaube sogar, man kann sich durchaus auch zu viel mit sich selbst beschäftigen. Uri jedenfalls war absolut überzeugt von dieser Methode – wenn er es nicht wäre, würde er nicht seit 16 Jahren in Tamera leben, schätze ich – und sagte diesen schönen Satz:
„Truth needs containers – our Forum is one potential container.“
Uri
Zur Kernfrage des Vertrauens gesellten sich im Laufe der Zeit weitere: So ging und geht es in Tamera auch viel darum, wie man die Beziehung zwischen Mann und Frau heilen kann. Sie heilen zu wollen setzt die Annahme voraus, dass da generell etwas kaputt ist in heterosexuellen Beziehungen, was man in Tamera zu glauben scheint. Die Prävalenzen von sexualisierter Gewalt, Femiziden und psychischer und physischer Gewalt (die übrigens auch Frauen ausüben!) in romantischen Partnerschaften generell scheinen diese Idee zu stützen. Es geht in den dort abgehaltenen „Liebesschulen“ vor allem um eine politische und geistige Perspektive auf Liebe und Sexualität. Eifersucht wird komplett abgelehnt und durch „innere Arbeit“ zu heilen versucht, denn sie sei ja eigentlich immer Ausdruck von Angst, die in einer Liebesbeziehung eigentlich keine Rolle spielen sollte.
Übrigens, die Entscheidung, sich fortzupflanzen ist in Tamera keine private: Die Kinder werden von der Gemeinschaft aufgezogen, also obliegt die Entscheidung für oder gegen eigene Kinder auch der Gemeinschaft. Ein auf den ersten Blick radikaler Weg, den ich aber immer besser finde, je länger ich darüber nachdenke: Wer Kinder möchte, tritt also vor die Gesellschaft und äußert den Wunsch sowie den Bedarf an einem Co-Parent falls erforderlich. Unser Guide hat auf diesem Weg drei biologische Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt, lebt aber selbst in fester Partnerschaft mit einem Mann. Es leben mehrere Generationen in Tamera zusammen, auch eine internationale (bislang aber nicht als solche anerkannte, deshalb rechtlich unter Homeschooling laufende) Schule für Kinder bis 14 gibt es auf dem Gelände, die auch von Kindern der umgebenden Ortschaften besucht wird. Für Kinder sei Tamera ein Paradies, der perfekte Ort, um aufzuwachsen. Das glaube ich sofort. Für die höhere Schulbildung verlassen die Kinder Tamera und nicht alle, aber viele, würden nach ihrem Bildungsabschluss mindestens zeitweise in die Gemeinschaft zurückkehren.
Sand im Getriebe? Aktuelle Herausforderungen in Tamera
Nicht alles ist heiter in Tamera, wie Uri offen erzählte: „Tamera is in crisis, but we’re on our way out of it.“ So gibt es aktuell drei große Reibungspunkte, die die Gemeinschaft beschäftigen:
Kluft zwischen älteren und jüngeren Mitgliedern
Vor Jahren seien die sozialen/spirituellen Institutionen wie Meditation am Steinkreis zum Sonnenaufgang oder Godpoint immer pickepackevoll gewesen. Es besteht kein Zwang, diese Zusammenkünfte aufzusuchen und seit einigen Jahren kämen weniger und weniger dorthin. Vor allem die Jüngeren blieben weg.
Machtstruktur in Tamera
Traditionell waren (und sind) Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels die Obermacker. Vor allem ihnen ist es zu verdanken, dass Tamera überhaupt existiert. Uri sagte, er sei aufgrund dessen gekommen, was Duhm und Lichtenfels kreiert haben, nicht wegen der beiden selbst. Entsprechend gilt: Nein, wenn Duhm und Lichtenfels einmal sterben (Duhm ist heute 80 und Lichtenfels 68 und beide scheinen noch immer in Tamera zu leben), suche die Gemeinschaft nicht nach neuen spirituellen Lehrer*innen sondern werde sich eher in Richtung flachere Hierarchien und zirkuläre soziokratische Führung und Entscheidungsfindung organisieren.
Mangel an Diversität und Inklusion
99% der Menschen, die in Tamera leben sind Weiß. Die Gemeinschaft gibt es unter anderem deshalb, um die romantische und sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau zu heilen. Seit einigen Jahren werden aber Stimmen lauter, die diesen Blick als zu eng problematisieren: Denn ja, es gibt durchaus mehr als zwei Geschlechter und Geschlechtsidentiäten und auch heterosexuell ist keineswegs die einzige sexuelle Orientierung da draußen.
Nicht alle teilen diese Meinung: Auch vor Ort gebe es noch Personen, die argumentieren, Tamera sei historisch eben so gewachsen und leugnen potentiell systemische Ursachen, was ich vor dem Hintergrund der Imperialismuskritik auch schon wieder irgendwie unpassend finde. Generell hat Tamera Wokeism für sich entdeckt und in diesem Jahr das erste Mal überhaupt eine Einführungswoche angeboten, die sich vor allem an Personen aus der LGBTQIA+ Szene richtete. Wokeism ist übrigens in meiner Welt ein absolut positiv besetztes Wort das eine unterstützenswerte Sicht auf die Welt meint.
Mein Fazit zum Besuch
Alle von uns gestellten Fragen wurden offen und ehrlich beantwortet – etwas, das wir gar nicht unbedingt erwartet hätten aber sehr positiv zur Kenntnis genommen haben. Gleichzeitig hat mich vor allem der ökologische Aspekt des Zusammenlebens interessiert, da ich schon befürchtet hatte, dass mich deren spirituelle Ansichten eher abstoßen oder mindestens irritieren würden.
Auch die Achtsamkeit mit der Uri mit unserer Gruppe von Neuankömmlingen umging hat mich gerührt: Er hat dafür Sorge getragen, dass alle an Sonnenschutz, Sonnenhut und genug zu trinken denken, schließlich hat die Sonne geballert und es waren um die 30°.
Bemerkenswert fand ich, dass die eigentlichen Kernthemen zu dem, was Tamera auszeichnet, gar nicht von allein angesprochen, sondern vor allem durch Nachfragen erst hervorgeholt und besprochen wurden.
So schwurbelig wie befürchtet, war der Besuch dann am Ende nicht und viel hat mich stark beeindruckt. Auf der Website und in den Büchern, die Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels im eigenen Verlag verkaufen, stehen sicher mehr Inhalte geschrieben, die wieder meinen Augenroll-Impuls hervorrufen würden. Nicht überraschend zwar, aber dennoch irgendwie traurig für mich war die Feststellung, dass Dieter Duhm eine „kritische“ Sicht auf die Covid19-Pandemie vertritt. Und auch Verweise auf ein „morphogenetisches Feld“ finden sich auf deren Webseite. Da wird’s dann eben doch schnell schwurbelig. Ich erspare euch die Details zu diesem unwissenschaftlichen Humbug. Solche Funde wiederum machen Tamera m.E. potentiell gefährlich: Leicht beeinflussbare Suchende finden eine Gemeinschaft, die ihnen Heilung verspricht und gleichzeitig pseudowissenschaftlichen Inhalten verbreitet. Und nein, nur weil ihr euch Forschungszentrum nennt, macht ihr noch lange keine wirkliche Forschung. Ich bin mir übrigens recht sicher, dass Personen, die in Tamera leben oder es mal ausführlicher besucht haben, alle meine Befürchtungen als unbegründet zurückweisen würden. Können sie und sollen sie. Ich bin die Letzte, die sagt, mein Urteil ist final. Am besten, ihr fahrt selbst mal hin und macht euch ein eigenes Bild.
Zum Abschluss
Warum habe ich diesen Text geschrieben: Erstens, um meine Perspektive der typischen Love & Light-Perspektive auf solche Unternehmungen entgegenzusetzen. Was ich online über Tamera finden konnte war oft sehr einseitig und zumindest auf der eigenen Website zu abstrakt und schwurbelig für meinen Geschmack, auch wenn sie generell einen Besuch lohnt. Friedensarbeit? Die Beziehung zwischen Mann und Frau heilen? Im Steinkreis in der Meditation mit anderen Friedensarbeiter*innen auf der ganzen Welt verbinden? Was soll das bitte alles bedeuten? Das weiß ich nach unserem Besuch dort zwar immer noch nicht, habe aber nun eine bessere Idee davon, was die Menschen in Tamera eigentlich treiben und vor allem warum sie es tun.
Tamera-Bashing wollte und will ich nicht betreiben und klar, ein vollständiges Bild konnte ich mir von diesem Haufen in den 4h, die wir dort verbracht haben sicher nicht machen. Auch wenn es mich beim Gedanken schüttelt, dort als work-study auch noch bezahlen zu müssen, ist das sicher ein Weg, noch mehr in die Abläufe und Ideen dieser Gemeinschaft schauen zu können. Vielleicht muss ich das also einfach mal machen. Wettet aber bitte nicht darauf. Zudem sagte eine work-study, die auch an der Tour teilgenommen hat, dass sie vor allem unter sich seien und gar nicht wirklich in Kontakt sind mit den dauerhaft dort lebenden. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich erst recht, was dieses ganze Programm eigentlich soll.
Uri sagte, er hantiere im Grunde seit er in Tamera lebe, im Grunde überhaupt nicht mit Geld. Was er und seine Familie benötigen, nehmen sie sich aus der Gemeinschaftsküche und gut ist. Das scheint mir zwar erstrebenswert zu sein, steht aber gleichzeitig im krassen Gegensatz zu dem ökonomischen Apparat, der Tamera ja nun mal auch ist. Kognitive Dissonanz aushalten zu können ist sicher eine Fähigkeit, die man in Tamera besser beherrschen sollte. Ich erinnere daran, dass die Gemeinschaft seit 30 Jahren Vertrauensbildungsarbeit betreibt, ihnen in einem Jahr aber trotzdem 10.000€ in der Bar-Vertrauenskasse fehlen, weil zumindest ein Teil der Bewohner*innen und Gäste eben nicht aufrichtig das aufschreiben und bezahlen, was sie saufen.
Alle Mitglieder von Tamera betrachten ihr Leben in der Gemeinschaft als Labor, als Gelegenheit Dinge auszuprobieren und Forschung zu betreiben: Sowohl was soziale Verbindungen angeht als auch Technologie. Und das ist schon auch irgendwie ganz schön cool.
PS: Zum Unterschied zwischen Sekten und Gemeinschaften gibt es übrigens folgende Weisheit, die ich von einer anderen Besucherin (Danke Lena!) habe: In Sekten kommst du sehr schnell rein, aber schwierig wieder raus. Bei Gemeinschaften ist es umgekehrt. Zumindest das scheint dafür zu sprechen, dass es sich bei Tamera eher um eine Gemeinschaft handelt, denn Teil der festen Bewohnerschaft kann man wohl nicht so einfach werden.
Disclaimer
Ich bin im Hauptberuf Wissenschaftlerin (Psychologie) und vermutlich sehr viel skeptischer als die durchschnittliche Tamera-Besucherin. Dennoch bin ich sehr offen für alternative Lebens- und Liebesmodelle und war entsprechend erfreut zu erfahren, dass Tamera zwischen Juli und Oktober 2x monatlich Neugierigen den Besuch erlaubt und eine Führung anbietet. Kürzlich war es dann mal wieder soweit und wir machten uns auf den (überraschend beschwerlichen) Weg nach Tamera.
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